Wir müssen erinnern

Ziffern und Zahlen zeigen uns zeitlich Zerflossenes.
Tausende beschriftete Koffer, nie angekommen.
Schuhe, weitere Habseligkeiten und Hoffnungen eng verpackt und liebevoll beschriftet.
Bilder hängen einander gegenüber.
Auf jedem einzelnen zu sehen ein Gesicht, wenige Daten, kaum Erinnerungen.
Fotografien gefertigt um zu strukturieren, zu sortieren und zu enumerieren.
Ein Schicksal gefangen in Ziffern.
Eine Geschichte erzählt durch ein Objektiv.
Die Geschichte von Oświęcim, Polen.
Eine kleine Stadt, die zum größten Friedhof der Welt wurde.

Am Sonntag, den 19. Februar 2023, begann unsere Fahrt nach Auschwitz, eigentlich Oświęcim.
Die Historie übermalte den ursprünglichen Namen der Kleinstadt im Süden Polens.
Nach stundenlanger Anfahrt mit dem Bus erreichten wir die internationale Jugendbegegnungsstätte, welche sich auf dem ehemaligen Interessengebiet der Nationalsozialisten befindet, an der Grenze zur Altstadt.
Wir besuchten am ersten Tag Oświęcims Altstadt und tauchten ein in die jahrhundertelange Geschichte des Ortes, welche unter anderem die Nachfahren von Dschingis Khan und die sogenannte Sinnflut der Schweden beinhaltet.
Oświęcim war vor der Besatzung der Nazis eine von mehreren polnischen Gemeinden, in denen Juden und Christen zu gleichen Teilen miteinander lebten, wo Synagogen und Kirchen die Straßen gleichermaßen zierten.
Bereits drei Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen, also am 03. September 1939, standen die Nationalsozialisten vor den Toren Oswiecims und beschädigten das Gleichgewicht der Stadt. Das Gleichgewicht der Menschheit.
Der Bau des Konzentrationslagers begann im Frühling 1940 in ehemaligen Kasernen, anfangs für politische polnische Häftlinge.
Wir wurden bei der Besichtigung durch das Tor geführt, welches jeder Häftling täglich zweimal zum Appell passieren musste. Die Worte „Arbeit macht frei“ höhnisch über ihnen.
In den einzelnen aus roten Ziegelsteinen errichteten Baracken befanden sich Ausstellungen zum Alltagsleben der Häftlinge, zur jüdischen Kultur in der Vorkriegszeit sowie der Effekten.
Effekten sind die Habseligkeiten, die Juden auf ihrem gedachten „Umzug“ in die Konzentrationslager mitnahmen. Die Überbleibsel, die den Juden entwendet wurden, um aus ihnen Profit zu schöpfen.
Während wir durch die Baracken schritten, beobachteten die Fotografien der vergangenen Häftlinge jeden unserer Schritte.
Wenn bekannt, wurde ihnen Namen, Geburts- und Sterbedatum sowie ihre Häftlingsnummer zugeschrieben.
Wenn unbekannt, blieben nur magere Wangen und seelenlose Blicke.
Eines der letzten Ausstellungsstücke war eine Ansammlung von über vier Millionen Namen. Eine Ansammlung von Namen der Opfer des Holocausts, niedergeschrieben in Tinte auf vergilbtes Papier wie ein Buch in unverständlichen Dimensionen, das sich über mehrere Meter erstreckte.
Und alle Komplexe des Auschwitz-Lagers vereint sind für die Meter von etwa 1.100.000 Individuen auf dem erinnernden Papier verantwortlich.
Diese Zahl spukte in unseren Köpfen unnachlässlich umher, als wir am folgenden Tag auf Auschwitz-Birkenau zugingen, dem zweiten Lager-Komplex, der mit seinen todbringenden Krematorien als Vernichtungslager konzipiert war.
Die Bahngleise überquerend besuchten wir die sogenannte Judenrampe, dem Ort der Entscheidung über direkten oder späteren Tod durch Überarbeitung, Krankheiten oder Unterernährung.
Das Lager war aufgrund seines überdimensionalen Aufbaus in weitere Lager aufgeteilt. Versehen mit Namen von den Häftlingen wie „Kanada“, „Mexiko“ oder „Sauna“, war jedes durchstrukturiert und hatte spezifische Funktionen.
Alles, was noch von den Gespenstern und Seelen der Vergangenheit geblieben ist, sind einzelne Baracken und Ruinen.
Die Krematorien, von der SS gesprengt, um mögliche Beweise eines Genozids zu vernichten, liegen von Moos bedeckt, teils in lichten Wäldern.
Der Ort wirkte, nachdem sich die Regenwolken verzogen hatten, schon beinahe idyllisch. Die Sonne spiegelte sich in dem hochstehenden Wasser, welches die Wurzeln der Bäume umschlang und wir betrachteten eine Wiese, auf der Reste menschlicher Asche verweilen. Vergast, gestapelt und verbrannt.
Um ein Zeichen des Gedenkens setzen zu können, trug jeder von uns eine weiße Rose mit sich. Nach Sonnenuntergang konnte man unsere Spuren des Erinnerns auf dem gesamten Gelände betrachten.
Wir gingen in Stille.
Es sind Bilder, die unsere Köpfe nie verlassen werden, weil das Geschehene unbegreiflich, schlichtweg nicht nachvollziebar ist – und nie sein wird.
Bilder, die der Realität der Vergangenheit dennoch so fern scheinen.
Bilder, die die überlebenden Häftlinge ihr Leben lang begleiteten wie ein dunkler Schatten.
Mittwochs besuchten wir sowohl ein Museum zur Situation der einheimischen Bevölkerung Oświęcims vor und während der Lager, als auch eine Ausstellung eines ehemaligen Häftlings. Marian Kołodziej, Häftling 432.
Er verewigte seine Bilder und Albträume aus Auschwitz auf Leinwänden. Auf hunderten von Leinwänden, die den Keller des Klosters Harmęże zieren und versuchen unvorstellbare Grausamkeiten vorstellbar zu machen.
Damit wir erinnern.
Bei der Abfahrt nach Krakau am folgenden Tag war uns allen dies bewusst: Wir würden und mussten erinnern.
Bis in die zweitgrößte Stadt Polens begleitete uns die Vergangenheit, als wir das jüdische Viertel, das Ghetto und eine Synagoge sowie Schindlers Fabrik besichtigt haben.

Die Vergangenheit von Auschwitz ist eine der Konstanten der Gegenwart.
Sie ist Teil der deutschen und weltlichen Geschichte.
Sie ist unausweichlich und unabstreitbar.
Sie ist eine Grausamkeit und Warnung.
Wir müssen erinnern.

Die Schüler*innen der Q2

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